Oft hat es in den Corona-Jahren geheißen: Gekaufte Tickets behalten ihre Gültigkeit. Zweimal pausieren musste während der Pandemie auch das an zahlreichen Tournee-Orten zur Tradition gewordene Spektakel Night of the Proms. Die schon erworbenen Tickets blieben samt Magnet an Kühlschranktüren kleben, verschwanden im Handschuhfach, in der Garderobenablage, unter einem Stapel Fernsehzeitschriften oder im Wohnzimmerschrank.

Mitunter auch auf Nimmerwiedersehen, sodass irgendwann die Frage auftauchte: „Schatz, wo hast du denn die Karten für Night of the Proms hingetan?“ Mitsamt der traditionsreichen Antwort: „Ich dachte, du hättest sie.“

Mittlerweile dürfte sich viel verloren Geglaubtes wiedergefunden haben, denn am ersten von zwei Gastspieltagen füllt sich die Festhalle optimal bis in den zweiten Rang hinauf.

Lauter alte Bekannte

Noch immer zieht das einst in Belgien ersonnene Konzept „U-Musik trifft E-Musik“ mit dem Antwerp Philharmonic Orchestra, dem Chor Fine Fleur, der Rockband Backbone und dem Gesangsharmonietrio Pretty Vanillas unter der Leitung von Chefdirigentin Alexandra Arrieche bei Auftritten in ganz Europa ein Millionenpublikum an.

Auch der Moderator ist nach zwei Jahren Unterbrechung wieder mit dabei. Markus Othmer informiert die Besucher knapp dreieinhalb Stunden lang ebenso charmant wie pointiert. Laut Othmer gilt die 3-G-Regel: „Gut gelaunte Gäste!“

Relativ knapp gehalten wird schon seit einigen Jahren der E-Anteil. Nach der Ouvertüre sind unter anderem Brahms’ fünfter Ungarischer Tanz, „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauss Sohn, zu dem das Publikum im Innenraum Walzer tanzen darf, etwas aus Rossinis „Diebischer Elster“ und Beethovens „Europahymne“ aus seiner neunten Sinfonie zu hören.

Freunde, die fehlen

Eine Institution fehlt von nun an für immer: John Miles, der britische Sänger, Gitarrist, Pianist, Komponist und Arrangeur, der über sehr lange Zeit der musikalische Leiter von Night of the Proms gewesen ist, starb am 5. Dezember 2021 im Alter von 72 Jahren.

Am Ende des ersten Konzertteils spielt sein Sohn John Miles junior zusammen mit den Pretty Vanillas das legendäre „Music“ des Vaters, längst offizielle Hymne der Show. John Miles’ unglaubliche Stimme erklingt ebenfalls. Sie kommt aus der Konserve, begleitet vom live gespielten Orchesterarrangement zum Standard „My Way“.

Als erste Künstlerin der U-Musik tritt die britische Saxofonistin YolanDa Brown mit angejazztem Soul Marke Achtziger an. Wobei die musikalisch eher unselige Dekade sich beim Publikum ja nach wie vor unglaublicher Beliebtheit erfreut.

Achtziger-Party

Kein Wunder also, dass auch Teile der diesjährigen Gaststar-Riege ihre größten Erfolge in der Ära der Yuppies und Zauberwürfel, von Kohl, Reagan und Thatcher sowie der Wiedervereinigung feierten.

Carol Decker von der britischen Band T’Pau kredenzt ebenso drei Hits wie der einstige Teenstar Nik Kershaw – alles Ohrwürmer, die um die Welt gingen. Da glänzen bei zahllosen Besuchern, die von den Plätzen aufgesprungen sind, die Augen vor Leidenschaft und Sentimentalität, da werden Erinnerungen an die eigene Jugendzeit wach.

Wesentlich mehr der Gegenwart zugewandt ist der recht patente amerikanische Singersongwriter Matt Simons mit einem ebenfalls dreiteiligen Auszug aus drei seiner Alben der Jahre 2012 bis 2019.

Und schon zum zweiten Mal seit 2013 mischt die schottische Singersongwriterin Amy Macdonald mit ihrer kraftvollen Indie-Pop-Folk-Rock-Mischung samt maximaler Stimmgewalt mit.

Auf die Zielgerade geht der musikalische Marathon mit der ursprünglich 1964 im amerikanischen New Jersey als instrumentale Jazzband gegründeten Formation Kool & The Gang.

Mehrere stilistische Verwandlungen vollzog das Ensemble, von R’n’B zu Soul und dann zu Funk, ehe es schließlich in der Disko-Ära den internationalen Durchbruch erlebte. Zwar tummeln sich im 58. Karrierejahr mit dem Bassisten Robert „Kool“ Bell sowie dem Keyboarder und Schlagzeuger George „Funky“ Brown nur noch zwei originale Mitglieder in den Reihen der Band, aber das vierblättrige Hit-Kleeblatt „Cherish“, „Ladies Night“, „Get down on it“ und „Celebration“ reißt das Publikum zum Finale derart von den Sitzplätzen, das richtiggehende Saturday-Night-Fever-Atmosphäre aufkommt. Einige wenige Wagemutige zieht es sogar direkt vor die Bühne, obwohl das die Security gar nicht gerne sieht.