Die Ukraine wirft Russland vor, erhebliche Gefahren durch „unverantwortliches und unpro­fessionelles Handeln“ in der Umgebung des havarierten Atomreaktors Tschernobyl hervorzurufen. Damit werde die nukleare Sicherheit nicht nur in der Ukraine, sondern auch „für Hunderte von Millionen Europäern“ gefährdet, schrieb die stellvertretende ukrainische Regierungschefin Iryna Wereschtschuk in sozialen Netzwerken. Sie bekräftigte die Forderung Kiews nach einer Entmilitarisierung der Sperrzone, die nach der Reaktorkatastrophe von 1986 um das Kernkraftwerk eingerichtet worden war. Russische Truppen hatten in den ersten Kriegstagen das Gelände von Tschernobyl, das auf dem Weg ihres Vorstoßes in Richtung Kiew lag, be­setzt. Der letzte Reaktor dort ist zwar seit Jahren abgeschaltet, doch wird weiterhin eine Lagerstätte für abgebrannte Brennstäbe betrieben.

Stephan Löwenstein

Politischer Korrespondent mit Sitz in Wien.

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Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA hat mehrfach ihre Sor­gen artikuliert, weil das Personal der Nuklearanlage nicht unbeeinträchtigt und eigenständig handeln könne. Die Schicht, die in Tschernobyl vom russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar und von der Be­setzung des Geländes überrascht worden war, konnte zwar nach knapp einem Monat wechseln. Doch auch die neue Mannschaft sei schon wieder seit mehr als einer Woche un­unterbrochen im Einsatz, berichtete IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi am Wochenende. Die IAEA ist be­sorgt, dass übermüdetes und ge­stresstes Personal anfällig für Fehler sein könnte.

Da­tenverbindung stillgelegt

Zur Beunruhigung trägt bei, dass russische Truppen vergangene Wo­che die Ortschaft Slawutych zunächst mit Artillerie beschossen und später besetzt haben, in der ein großer Teil des Personals von Tschernobyl wohnt. Die Ortschaft war 1986 ei­gens außerhalb des Sperrgebiets für das Personal des Kernkraftwerks er­richtet worden. Man beobachte die Lage dort genau, sagte Grossi. Der IAEA-Chef hatte vorgeschlagen, sich mit russischen und ukrainischen Vertretern zu treffen, um eine Vereinbarung über die Sicherheit der Nuklearanlagen während der Kampfhandlungen zu erreichen, doch ist das bislang nicht zustande gekommen.

Eine weitere Sorge der IAEA ist, dass die Überwachungskameras in Tschernobyl nicht mehr Daten senden. Damit wird kontrolliert, dass nukleares Material nicht undeklariert abgezweigt wird. Während die äußere Stromzufuhr zu Tschernobyl wieder funktioniert, bleibt die Da­tenverbindung stillgelegt. Hingegen hat die IAEA auf Berichte über Waldbrände in der Region eher zu­rückhaltend reagiert und die Einschätzung bekundet, dass davon derzeit keine nuklearen Risiken ausgingen. Meldungen über neu aufgeflammte Waldbrände haben ukrai­nische Behörden als falsch bezeichnet. Aufnahmen von Satelliten zeig­ten derzeit keine derartigen Wär­me­quellen, teilte der ukrainische Zivil­schutzdienst am Montag mit.

Unter mehrfachen Artilleriebeschuss ist am Wochenende außerdem eine nukleare Forschungseinrichtung in Charkiw geraten. Deswegen habe ein Raketenblindgänger nahe der An­­lage nicht beseitigt werden können, teilte die IAEA unter Berufung auf die ukrainische Regulierungsbehörde mit. Dort befinde sich aber nur eine kleine Menge nuklearen Materials mit geringer Strahlung.