Es waren gleich mehrere Faktoren, die dieses Erdbeben in der Grenzregion zwischen Afghanistan und Pakistan zu einem der folgenreichsten der vergangenen Jahrzehnte machen könnten. Eine schwer zugängliche Bergregion in den Provinzen Paktika und Khost, in der die meisten Menschen in alten Lehmziegelhäusern leben, die bei schweren Erschütterungen in sich zusammenfallen. Die schweren Unwetter in den Tagen zuvor, die Lehmhäuser waren durchnässt, der Boden aufgeweicht, sodass es zu zahlreichen Erdrutschen kam und viele Dörfer von der Außenwelt abgeschnitten wurden. Und zuletzt der Zeitpunkt des Bebens, das die amerikanische Erdbebenwarte USGS mit der Stärke von 5,9 bewertete. Mitten in der Nacht, um 1.30 Uhr Ortszeit, waren die meisten Menschen auf engem Raum in ihren Häusern und wurden unter den Trümmern begraben.

Alexander Haneke

Redakteur in der Politik.

  • Folgen Ich folge

Schon am Mittwochmittag meldete die Provinzverwaltung in Paktika, dass man mit mindestens 1000 Todesopfern rechne, 1500 Personen seien verletzt. Doch Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass die Zahlen noch erheblich steigen könnten, da viele der betroffenen Dörfer weiterhin von der Außenwelt abgeschnitten sind und zahlreiche Menschen vermisst werden. Die Taliban-Regierung schickte noch am Morgen mehrere Hubschrauber mit Hilfsgütern in die Region, doch die Möglichkeiten der unter internationalen Sanktionen stehenden Islamisten, die im vergangenen Sommer die Macht in Afghanistan übernommen hatten, sind begrenzt – und die Ausmaße der Verheerungen noch nicht abzusehen. Ein Bauer in einem entlegenen Ort berichtete der BBC, er allein habe 40 Tote geborgen. „Die meisten waren junge, sehr junge Kinder.“ Zwar gebe es ein Krankenhaus in der Nähe, doch sei es mit der schieren Menge von Opfern heillos überfordert.

Von Kandahar aus ließ Taliban-Emir Haibatullah Akhundsada eine Beileidserklärung verbreiten. In Kabul teilte Taliban-Sprecher Zabihullah Mudschahid mit, das Kabinett sei zu einer Notsitzung zusammengekommen, um Hilfsmaßnahmen zu beschließen. „Zusätzlich bitten wir alle relevanten Organisationen, Rettungsteams auszusenden“, sagte Mudschahid nach afghanischen Medien­berichten. Die Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC), die in Afghanistan rund 6000 Mitarbeiter beschäftigt, berichtete der F.A.Z., mehrere Organisationen hätten sich zusammengeschlossen, um Hilfsbemühungen zu koordinieren und mobile Teams in die Region zu entsenden. Die Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation sprach gegenüber der F.A.Z. von der vielleicht größten Herausforderung, vor der die Taliban-Regierung seit ihrer Machtübernahme stehe. Die Islamisten sind in vielen Verwaltungsangelegenheiten unerfahren.

Schwere humanitäre Krise und Kollaps der Wirtschaft

Als Terrororganisation stehen sie zudem unter internationalen Sanktionen, und die Auslandsvermögen der afghanischen Zentralbank sind eingefroren, was zu einem Kollaps der Wirtschaft und einer schweren humanitären Krise geführt hat – wenngleich zahlreiche Ausnahmen von den Sanktionen humanitäre Unterstützung ermöglichen sollen und internationale Hilfsorganisationen weiter in Afghanistan tätig sind. Doch seit der Übernahme der Regierungsgewalt haben sich die Islamisten immer weiter von den Forderungen entfernt, die die internationale Gemeinschaft zur Voraussetzung für eine weitergehende Zusammenarbeit macht.

In der Region um den Hindukusch, wo die Arabische, die Indische und die Eurasische Platte aufeinander treffen, kommt es immer wieder zu schweren Erdbeben. 1998 erschütterte während der ersten Taliban-Herrschaft ein Beben den Norden Afghanistans, bei dem mehrere Tausend Menschen starben. In Iran zerstörte ein Beben 2003 die historische Stadt Bam und tötete mehr als 40.000 Menschen. 2005 kamen bei einem verheerenden Erd­beben in Pakistan 75.000 Menschen ums Leben. 2015 hatte ein Erdbeben, das mit einer Magnitude von 7,5 wesentlich stärker als das vom Mittwochmorgen war, im Nordosten Afghanistan 400 Menschenleben gefordert.