In Nordirland bereiten sich viele auf hitzige Tage – möglicherweise mit Brandanschlägen – vor. Der Post-Brexit-Streit setzt die ganze Region unter Stress. Seit Januar werden Warenlieferungen zwischen Großbritannien und Nordirland kontrolliert. So verlangt es das Nordirland-Protokoll des EU-Austrittsvertrags, den die Regierung von Boris Johnson und die EU geschlossen haben. Für Warentransporte über die Irische See müssen Unternehmen umfangreiche Zollerklärungen und Zertifikate vorlegen, besonders für Nahrungsmittel und Agrarprodukte. Der Handel fühlt sich dadurch gelähmt. Supermärkte in Nordirland hatten anfangs Schwierigkeiten, ihre Regale mit Lebensmitteln zu füllen.

Hendrik Kafsack

Wirtschaftskorrespondent in Brüssel.

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    Philip Plickert

    Wirtschaftskorrespondent mit Sitz in London.

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      Viele englische Transporteure und Onlinehändler haben Lieferungen wegen des Zollaufwands ganz eingestellt. Seit Wochen provoziert der „Wurst-Krieg“ Schlagzeilen – dabei geht es um drohende EU-Einfuhrkontrollen für gekühltes Fleisch und Würstchen. Ende Juni wurde eine weitere dreimonatige Gnadenfrist vereinbart, um Lieferungen britischer Fleischprodukte nach Nordirland zu ermöglichen.

      Höhepunkt der alljährlichen nordirischen „Marsch-Saison“

      Lord Frost, der britische Brexit-Minister, der mit der EU verhandelt, hält das Nordirland-Protokoll in seiner gegenwärtigen Form für nicht haltbar und appelliert an die EU, sie solle pragmatischen Lockerungen zustimmen. Das Protokoll soll verhindern, dass eine harte (Zoll-)Grenze innerhalb Irlands errichtet werden muss, die den Frieden gefährden könnte. Nordirland bleibt de facto in der EU-Zollunion und im Binnenmarkt. Deshalb müssen aber Güterlieferungen in der Irischen See kontrolliert werden. Britisch orientierte „Unionisten“ fühlen sich verraten. Sie haben Angst, dass das kleine Nordirland mit nur 1,8 Millionen Einwohnern nach und nach vom Königreich abgespalten wird.

      In den kommenden Tagen könnten sich die Spannungen verschärfen. Es ist der Höhepunkt der alljährlichen nordirischen „Marsch-Saison“. Am 12. Juli werden die britisch-protestantischen „Loyalisten“ des Oranier-Ordens wieder auf den Straßen in Belfast, Londonderry und anderswo marschieren. Mehr als hundert Paraden mit Trommelwirbel und Fahnen sind angekündigt. Am Abend zuvor entzünden die Loyalisten wieder große Freudenfeuer, die an jene Leuchtfeuer erinnern, die 1690 die Truppen des englischen Königs Wilhelm III. (von Oranien) begrüßten, der tags darauf in der Schlacht am Boyne den entscheidenden Sieg über abtrünnige irische Truppen errang. Bis heute ist diese konfliktreiche Geschichte virulent. Drei Jahrzehnte blutiger Bürgerkrieg zwischen katholischen Nationalisten und protestantischen Unionisten fanden erst mit dem Karfreitagsabkommen 1998 ein Ende. Dieses Jahr werden am 11. Juli nicht nur Freudenfeuer erwartet, sondern möglicherweise auch Brandanschläge und Protestzeichen gegen die Europäische Union. „EU out of Ulster“ steht auf Plakaten von Unionisten.

      London versucht seinerseits, den Druck zu erhöhen, damit die EU Zugeständnisse macht und weniger Kontrollen in der Irischen See verlangt. Lieferungen für Supermärkte in Nordirland sollten ohne Zolldokumente durchgewunken werden. Brexit-Minister David Frost hat angekündigt, bis zum 22. Juli werde die Regierung Johnson einen „neuen Ansatz“ präsentieren. Innerhalb der nächsten zwei Wochen könnte es also eine unilaterale Aktion geben. Schon im März hatte die britische Regierung die Übergangsfrist, während der die EU-Regeln für die Einfuhr von Tieren, Fleisch und landwirtschaftlichen Gütern nach Nordirland außer Kraft gesetzt sind, einseitig um drei Monate bis Ende September verlängert.

      Die Europäische Kommission hatte darauf mit einem Vertragsverletzungsverfahren reagiert. „Die vergangenen Wochen wären intensiv“, fasste ein hochrangiger EU-Beamter jüngst den Streit um das Nordirland-Protokoll zusammen - aus Brüsseler Sicht eine klare Untertreibung. Vor allem die französische Regierung hat großen Druck ausgeübt, gegenüber den Briten mehr Härte zu zeigen, und Vergeltungsschritte gefordert. Wenn die britische Regierung „weitere unilaterale Handlungen“ ergreife, müsse Großbritannien „durch alle zur Verfügung stehenden Mittel zu Vertragstreue bewegt werden“, kündigte der zuständige Kommissionsvize Šefcovic im Juni an. Konkret ging es um Strafzölle auf die Einfuhr britischer Güter in die EU.

      Zuletzt gab sich zumindest die Kommission etwas konzilianter. Die EU hat angeboten, ihre eigenen Regeln für die Zulassung von Medikamenten zu überarbeiten, um die Versorgung Nordirlands mit Generika zu erleichtern. Das Gleiche gilt für die nur scheinbar banale Frage, wie ein reibungsloser Grenzübertritt von Blindenhunden gesichert werden kann. „Wir wollen den Menschen Nordirlands beistehen“, kommentierte ein Kommissionsvertreter diesen Kurs, schränkte aber sogleich ein: „Aber wir werden auch alle nötige Härte zeigen, wenn Großbritannien seinen Verpflichtungen aus dem Nordirland-Protokoll nicht nachkommt.“

      Die „neue“ Übergangsperiode für Kühlfleisch bis zum 30. September müsse nun von britischer Seite auch ernsthaft genutzt werden, um eine dauerhafte Lösung zu finden. „Wir können die Periode nicht alle drei Monate von Neuem verlängern, weil die Briten ihre Hausaufgaben nicht machen“, heißt es in der Kommission. „Wir brauchen eine dauerhafte Lösung.“