Nach der Aufdeckung einer Reihe von Korruptionsfällen in der Ukraine setzen die Behörden ihren Kampf gegen Be­stechlichkeit unter Selenskyjs Formel „Ge­rechtigkeit für alle“ fort. Am Mittwoch fanden an mehreren Orten im Land weitere Durchsuchungen statt. In der Mil­lionenstadt Dnipro kamen Ermittler des Geheimdienstes SBU und des Büros für Wirtschaftssicherheit zu dem Unternehmer Ihor Kolomojskyj, der vor dem Krieg noch als Dollar-Milliardär zu den fünf reichsten Menschen des Landes ge­zählt wurde.

Gerhard Gnauck

Politischer Korrespondent für Polen, die Ukraine, Estland, Lettland und Litauen mit Sitz in Warschau.

  • Folgen Ich folge

Die Ermittler trafen den Oligarchen in Filzschlappen und einem winterfesten Trainingsanzug zu Hause an; ein Foto von ihm in dieser Aufmachung wurde da­raufhin in ukrainischen Medien verbreitet. Die Ermittler verdächtigen ihn, als Ko-Eigner der größten Unternehmen von Ölförderung und Ölverarbeitung im Land, Ukrnafta beziehungsweise Ukrtatnafta, an der „Zweckentfremdung“ von umgerechnet einer Milliarde Euro beteiligt gewesen zu sein.

Seit Kriegsbeginn war Kolomojskyjs Vermögen laut Medienberichten ohnehin um etwa die Hälfte auf 850 Millionen Dollar geschrumpft. Dazu hat beigetragen, dass die beiden kriegswichtigen Firmen im November vorübergehend, „bis zum Ende des Kriegszustands“ unter Staatsverwaltung gestellt wurden. Die Be­stimmungen von 2012 über den Kriegszustand sehen eine solche Möglichkeit vor; danach muss der Eigentümer die Firmen zurückerhalten oder entschädigt werden.

Selenskyj zeigte Kolomojskyj die kalte Schulter

Der Fall Kolomojskyj wurde jedoch vor allem deshalb aufmerksam beobachtet, weil der Oligarch auch im Mediengeschäft ein großer Akteur ist. Auch dessen Fernsehsender 1+1 verdankt der heutige Präsident Selenskyj seine Beliebtheit; dort hatte der Schauspieler und Komiker in der Serie „Der Diener des Volkes“ ei­nen Lehrer gespielt, der als rechtschaf­fener Mensch durch glückliche Umstände zum Präsidenten wird und als solcher energisch die Korruption bekämpft.

Manche befürchteten, Selenskyj werde dem Oligarchen nach seinem Wahlsieg 2019 einen „Gefallen“ tun – zum Beispiel hatte sich in Kolomojskyjs „Privatbank“, dem größten Geldinstitut der Ukraine, ein Milliarden-Dollar-Loch aufgetan. Im Rahmen der Sanierung des Bankensektors wurde die Bank daher 2016 verstaatlicht. Nach dem Machtwechsel von Petro Poroschenko zu Selenskyj erhob der Oligarch lautstark Anspruch auf sein frü­heres Eigentum oder auf Entschädigung. Aber der politische Quereinsteiger Se­lenskyj, der mit dem Versprechen der Be­kämpfung der Korruption angetreten war, zeigte Kolomojskyj die kalte Schulter. Mancherlei Befürchtungen, Selenskyj könnte sich Kolomojskyj verpflichtet fühlen, haben sich nicht bestätigt.

Amerikanische Experten in der Ukraine

Auch ein politisches Schwergewicht der letzten neun Jahre, also der Ukraine nach der Maidan-Revolution, bekam jetzt ungebetenen Besuch: Arsen Awakow. Der langjährige Innenminister galt als ei­ner der mächtigsten Männer dieser Zeit, zunächst auch unter Selenskyj. Jetzt fand auch bei ihm eine Durchsuchung statt. Awakow sagte danach zu Journalisten, den Ermittlern sei es um den Kauf von Hubschraubern der Firma Airbus durch das Innenministerium 2018 gegangen; sie hätten Dokumente gesichtet. Einer der Hubschrauber war im Januar während ei­nes Dienstflugs bei Kiew abgestürzt. Unter anderem kam dabei Awakows Nachfolger, Denys Monastyrskyj, ums Leben.

Darüber hinaus gab es weitere Durchsuchungen von Amtsträgern niedrigeren Ranges – etwa bei Oksana Datij, die 2022 kommissarisch zur Chefin der Steuer­behörde der Stadt Kiew ernannt worden war. Sie soll unter anderem drei teure Wohnungen in Kiew besitzen und in ih­ren Vermögenserklärungen, die Politiker und Beamte regelmäßig vorlegen müssen, gelogen haben.

Im Januar haben die Vereinigten Staaten eine behördenübergreifende Arbeitsgruppe gebildet, die mögliche Veruntreuungen amerikanischer Hilfslieferungen während des Krieges an die Ukraine un­tersuchen soll. Diese Gruppe besteht un­ter anderem aus Inspekteuren des Verteidigungsministeriums, des Außenministeriums und der Hilfsorganisation USAID. Wie die „Ukrainska Prawda“ berichtet, sind Ende Januar Vertreter dieser Behörden in die Ukraine gereist, um vor Ort In­formationen zu sammeln.