In seinen Erinnerungen „Aus meinem Leben“ von 1998 schreibt Joseph Kardinal Ratzinger: „Exegese ist für mich immer Zentrum meiner theologischen Arbeit geblieben“. So hat er es auch mit seiner Trilogie „Jesus von Nazareth“ (2007 bis 2012) gezeigt, die er als Papst verfasste. Wer hätte je an solch ein publizistisches Unternehmen aus der Feder eines Papstes gedacht? Und welcher Dogmatiker hat je die Exegese als Zentrum seiner theologischen Arbeit betrachtet?

Dass sie aber tatsächlich das Zentrum von Ratzingers theologischen Arbeiten war, zeigte sich bereits an den Vorlesungen über Christologie, die er als Dogmatikprofessor hielt. Im Regensburger „Institut Papst Benedikt XVI.“ kann man mehrere studentische Nachschriften dieser Vorlesungen aus unterschiedlichen Jahren einsehen. Sie haben jeweils einen umfangreichen Teil über den historischen Jesus, der sich als glänzend informiert erweist.

Kritische Äußerungen zur Jesusforschung

Die Vorarbeiten zum dreibändigen Jesusbuch haben also früh begonnen. Von Anfang an waren Ratzingers Äußerungen zur Jesusforschung der Exegeten kritisch -- kritisch in Bezug auf landläufige und als solche kaum noch befragte philosophische Vorentscheidungen jener Forschungsrichtung, die sich mit Vorliebe historisch-kritisch nannte, kritisch aber auch gegenüber verbreiteten historischen Hypothesen über den kritisch rekonstruierten Jesus.

Ratzinger spricht von dem „Gewissheitspathos“, mit dem solche Hypothesen auftreten, „das schon dadurch widerlegt wird, dass laufend gegensätzliche Positionen mit der gleichen Gebärde wissenschaftlicher Gewissheit vorgetragen werden“. Eine schöne Anzahl von Grabsteinen auf dem „Friedhof von einander widersprechenden Hypothesen“ könnte jeder Kenner der Exegese-Geschichte leicht benennen. Aber daran lassen sich die Vertreter und Vertreterinnen der exegetischen Disziplin ungern erinnern. Denn jede neue Hypothese wird als „Ergebnis der Forschung“ und Forschungsfortschritt verkauft.

Eine „Qaestio disputata“, die Ratzinger 1989 unter dem Titel „Schriftauslegung im Widerstreit“ herausgab, wollte den Blick auf „die philosophischen Grundentscheide freilegen, die ungeprüft den Weg des historischen Handwerks prägen“, darunter auch „die Normativität des im einzelnen nicht reflektierten sogenannten modernen Weltbildes“. Ratzinger war überrascht, dass er damit bei den evangelischen Kollegen der verschiedenen Konfessionen auf weitgehende Zustimmung stieß, während man unter Katholiken offenbar fürchtete, die im Modernismusstreit mühsam errungene Freiheit der Exegese wieder zu verlieren.

Ratzinger für neue Methodenreflexion

Ratzingers eigener langer Beitrag hat auch heute nichts von seiner Aktualität verloren. Für die Feststellung: „Die reine Objektivität ist eine absurde Abstraktion“ beruft er sich auch auf Werner Heisenberg. Seine Hauptthese illustriert er vor allem an Rudolf Bultmann und Otto Dibelius. Die bessere Philosophie der historischen Methode sei die Romano Guardinis, den die Exegeten tendenziell ebenso ablehnen wie Ratzinger selbst.

Von der Exegese wünscht Ratzinger sich eine gründliche neue Methodenreflexion und das Studium der philosophischen Implikationen des Auslegungsvorgangs. Außerdem müsse die Exegese, wenn sie Theologie sein wolle, ihren Ort in der Kirche und ihrer Tradition erkennen und deutlich machen. Von derartigen Neubesinnungen ist seitdem nur wenig zu beobachten. Der Hypothesenwald wächst und wächst und wird immer mehr zum Friedwald. Neue „Forschungsergebnisse“ regen niemanden mehr auf. Sie werden kaum noch zur Kenntnis genommen.

Die letzte Instanz

Ein Beispiel mag das eigentliche Anliegen des Professors, Kardinals und Papstes verdeutlichen. Das Kapitel über die Osterereignisse im zweiten Band seines Jesusbuchs enthält einen Abschnitt mit der Überschrift: „Worum es bei der Auferstehung Jesu geht“. Es hat systematischen Charakter, behandelt aber Fragen, die kein Exeget, der sich mit den entsprechenden Aussagen des Neuen Testaments befasst, außer Acht lassen darf, wenn er nicht am Thema vorbei reden möchte.

Gleich zu Anfang erklärt der Autor, dass der christliche Glaube „steht und fällt mit der Wahrheit des Zeugnisses, dass Christus von den Toten auferstanden ist“. Nehme man dies weg, „dann kann man aus der christlichen Überlieferung zwar immer noch eine Reihe bedenkenswerter Vorstellungen über Gott und den Menschen, über dessen Sein und Sollen zusammenfügen – eine Art von religiöser Weltanschauung –, aber der christliche Glaube ist tot.