Was ist das? Es besitzt die Gardemaße der Gotik: 155 Zentimeter hoch und damit für das fünfzehnte Jahrhundert fast schon lebensgroß, bei einer sehr schlanken Taille von nur 21,5 Zentimetern. Er ist mit schwarzer Tusche auf Pergament gezeichnet und um das Jahr 1495 zu datieren. Seine Inventarnummer ist „bade-1-1“, was auf den Straßburger Baumeister Hans von Baden und als Kürzel auf die Sammlung hochkarätiger Architekturzeichnungen der Technischen Universität München verweist. Der Extraordinarius für Architektur Hans Karlinger hatte die Zeichnung 1924 voller Überzeugung Hans von Baden zugeschrieben. Es handelt sich um einen spätgotischen sogenannten Turmriss, wobei das Verb reißen um 1500 synonym für „zeichnen“ steht – Dürers Maxime etwa war, die „Kunst aus der Natur zu reißen“.

Stefan Trinks

Redakteur im Feuilleton.

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Auch dieser für die Kunstgeschichte bedeutende, weil seltene spätgotische Turmriss aus seinen vier zusammengesetzten Pergamentteilen ist wie die Benin-Bronzen zur Beutekunst zu zählen. Fast achtzig Jahre nach Kriegsende fehlen deutschen Museen und Sammlungen noch immer Kunstwerke, die in den Wirren der letzten Kriegstage „abhanden“ gekommen sind. Diese Kunstwerke sollten nicht als normales Handelsgut eingeschätzt werden, liegt das Eigentum doch weiter bei den ursprünglichen Museen und Einrichtungen – nur ist der Diebstahl meist verjährt. Deshalb bemühen sich Auktionshäuser, Kunsthandel und auch diverse Kunststiftungen oft um einen Kompromiss und die Rückführung der quasi unverkäuflichen, da in der Kunstwelt häufig weithin bekannten Werke.

In einer Privatsammlung verschwunden

„Ein normaler Kaufpreis kann dabei nicht gezahlt werden – meist handelt sich um zehn bis fünfzehn Prozent des Schätzwertes und auch dieser ,Finderlohn’ kann beträchtliche Summen erreichen“ verrät Martin Hoernes, Generalsekretär der Ernst von Siemens Kunststiftung, dem in den vergangenen Jahren gleich mehrere solcher Rückführungen gelangen, die spektakulärste davon sicher die fünf 1979 aus dem Gothaer Schloss Friedenstein gestohlenen und in einer triumphalen Ausstellung als wiedergewonnene Meisterwerke präsentierten Bilder von Rembrandt, Van Dyck, Holbein, Hals und Brueghel.

Im Fall des nun wiedergefundenen, besonders kunstvollen spätgotischen Turmrisses kann man Versicherungswerte von Museumsexponaten und den Kaufpreis des 2018 für Freiburg erworbenen Planriss des Münsterturms von 1430 vergleichen. Ein Schätzwert von einigen hunderttausend Euro ist für solch seltene Zeugnisse des mittelalterlichen Bauwesens durchaus möglich, die daraus ermittelte Kompromisszahlung immer noch hoch. Dennoch scheint sie angemessen und sinnvoll, denn der Riss war bereits 2012 im Auktionshandel aufgetaucht und nach einer Intervention der TU München, zu deren Sammlung epochaler Architekturzeichnungen er eben bis 1945 gehörte, abermals sang- und klanglos in einer Privatsammlung verschwunden. Diesmal, zehn Jahre später, gelang es, die mittelalterliche Preziose für die Öffentlichkeit zu sichern.

Denn mittelalterliche Entwurfspläne von Türmen sind selten in Deutschland, nur etwa dreißig Pläne haben sich erhalten, davon fünf bis sechs allein in Freiburg und ebensoviele in Ulm. Es handelt sich jedoch um keinen Bauplan im konkreten Sinn, eher um ein Schaustück, das einen potenziellen Bauherrn überzeugen sollte. Daher ist der Plan auch „kontextfrei“ ohne Beschriftung wie Maße oder Verortung im Kirchenbau. Derzeit sind überhaupt nur drei bis vier solcher „Rätselrisse“ bekannt. Gewiss scheint nur, dass der Riss zeitlich nach Ulrich von Ensingens Ulmer Münsterturm und jenem seiner Freiburger und Esslinger Pendants zu datieren ist, mit Ähnlichkeiten zu Details des Regensburger Doms.

Natürlich reizt eine Zuschreibung an die Baumeisterfamilie der Ensingens, Stararchitekten der Gotik über mindestens drei Generationen, doch spricht stilistisch einiges dagegen. Die einstige Zuschreibung der Architektursammlung an Hans von Baden jedenfalls ist nicht mehr belastbar: Das Ausrahmen des Risses in der vergangenen Woche hat ergeben, dass sich auf der Rückseite nicht, wie nach der TU-Inventarisierung von 1924 zu erwarten gewesen wäre, ein schriftliches Zeugnis dieses Baumeisters findet. So bleibt es bei der stilistischen Annäherung, denn eine identifizierbare Handschrift zeigt der Turmriss nicht. Sein Zeichner benutzte Zirkel und Lineal für die großen Architekturformen, alle Detail- und Dekorationsformen wie Krabben, Kreuzblumen und Wirtel sind dagegen freihändig ausgeführt, doch nicht durch Eigenheiten zuschreibbar. Auf die zu erwartenden Forschungsergebnisse darf man daher sehr gespannt sein.