Abends in einem großen Münchner Buchkaufhaus, das früher einmal noch viel größer war. So groß, dass die Ware in zwei Reihen hintereinander stand. Wenn man ein Buch unbedingt und sofort haben wollte, musste man zur Sicherheit dort nachsehen, wenn es in anderen Buchhandlungen nicht vorrätig war. Abwesenheiten schmerzen. Keine zwei Wochen ist er nun tot, und der Wunsch, lieben Menschen den einen oder anderen seiner Gedichtbände auf den Gabentisch zu legen, wird übermächtig.

Hans Magnus Enzensberger war nicht nur ein weltläufiger Weltgeist der Sonderklasse, er war als bayerischer Schwabe auch ein Münchner, der hier jahrzehntelang lebte, drei Kilometer von dem großen Buchkaufhaus entfernt, nahe dem Englischen Garten. Nun ist es natürlich Pech, dass ein Schriftsteller ohne rechtzeitige Ankündigung stirbt und seine Bücher – es sind im Falle von HME Dutzende – gerade nicht mehr so nachgefragt sind. Rasches Nachdrucken in Papiermangelzeiten ist eine Übung, die nicht gelingen kann. Indes meldet der Hausverlag Suhrkamp, fünfzig Titel Enzensbergers seien lieferbar „seit vielen, vielen Jahren“, so Geschäftsleitungs-Mitglied Tanja Postpischil. Vielleicht hat der Buchhandel also nur gezögert, sie nachzuordern? Also Abklappern gehen. Von der Rolltreppe in den ersten Stock geschaufelt, stößt man auf einen Büchertisch, der ist aber nicht HME, sondern Annie Ernaux gewidmet. Auch die umliegenden Büchertische erweisen sich als Fehlschlag, in den Regalen, die allesamt Romane bergen, muss man nicht nach Enzensberger suchen, tut es zur Sicherheit trotzdem.

Krimis, Unterhaltung, Debattenbücher, Papeterie. Alle Tische sind besetzt im Café, die Lesesessel dito. Nach zwei erfolglosen Rundgängen eine Buchhändlerin aufgestöbert und nach HME gefragt. Die Ausbeute ist magerer als erhofft. Fünf Bände „Fallobst“, ein Exemplar „Herrn Zetts Betrachtungen oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen seinen Zuhörern“, fünf Exemplare „Hammerstein oder Der Eigensinn“, vier Taschenbücher, ein Hardcover. Man habe sich bemüht, so viel wie möglich aufzutreiben, aber ohne großen Erfolg, räumt die Buchhändlerin ein. Auf die Frage, wo überhaupt noch Lyrik zu finden sei, verweist sie auf das Nachbarregal „Klassiker“. In dessen unterstem Regalbrett steht eine bunte Mischung. Herbstgedichte, Haikus, Hermann Kesten, Erich Fried, Amanda Gorman, Macha Kaléko, Till Lindemann, Julia Engelmann, Hermann Hesse, Pablo Neruda, Emily Dickinson, Erich Kästner und Sophie Bichow – sowie eine verirrte „Emma“ von Jane Austen. Wehmut ergreift den lyrikkaufbereiten Leser. Vorbei an Annie Ernaux tritt er den Rückzug an, anstelle eines Buches die Frage im Gepäck, wie schlecht die Zeiten für Lyrik sind? Ein Trost, dass HME selbst das als den Lauf der Zeit verbucht hätte, dem sich entgegenzustemmen so sinnvoll ist wie darauf zu warten, die Zeiten für Lyrik würden sich bessern.