Andrij Melnyk weiß, dass die Aufmerksamkeit der Deutschen flatterhaft ist. Deshalb nutzt er jede Gelegenheit, um ihnen zu erklären, was auf dem Spiel steht, „solange mich noch jemand sehen und hören will“. Die Deutschen haben sich an den Botschafter ge­wöhnt, der Abend für Abend aus einer Talkshow in ihr Wohnzimmer sendet, stets so elegant gekleidet, wie er spricht. Ein Deutsch, um das man ihn beneiden kann, auch weil er Worte findet, die stärker sind als unsere. „Kleinkarätig“ ist so ein Wort.

Livia Gerster

Redakteurin in der Politik der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

  • Folgen Ich folge

Kleinkarätig ist zum Beispiel die Reaktion des Bundestags auf die Rede des ukrainischen Präsidenten in der vergangenen Woche. Andrij Melnyk sitzt da auf der Ehrentribüne und knetet seine Hände. „Wir haben immer wieder gesagt, Nord Stream ist eine Vorbereitung auf den Krieg“, sagt Selenskyj von der Leinwand. Olaf Scholz sitzt klein auf seinem Drehstuhl und schaut zu ihm auf. Melnyk blinzelt hinter seiner Brille.

Im Auswärtigen Amt seit Jahren eine Art Hausverbot für Melnyk

Das „Wir“, von dem Selenskyj in seiner Video-Botschaft an das deutsche Parlament spricht, meint vor allem ihn, den ukrainischen Botschafter in Berlin. Immer wieder hat er den Bau der Pipeline kritisiert, und wenn er es für nötig hielt, auch Frank-Walter Steinmeier. Gehört fühlte er sich nicht. Wenn Melnyk im Außenminis­terium oder im Kanzleramt anklopfte, ha­ben sie nicht einmal aufgemacht. Es gibt dort schon seit Jahren eine Art Hausverbot für Melnyk.

„Lieber Herr Bundeskanzler Scholz“, sagt Selenskyj mit dunklen Ringen unter den Augen. „Geben Sie Deutschland die Führungsrolle, die es verdient.“ Melnyk kann vom Kanzler nur den Hinterkopf sehen, umrahmt von schwarzen Kopfhörern, aus denen die Stimme der Dolmetscherin spricht. Dann wird der Bildschirm schwarz, Scholz schweigt und Selenskyjs Appell zerschellt an der Tagesordnung.

Melnyk wollte nicht, dass es so kommt. Er hat Olaf Scholz schon zwei Tage vorher aufgefordert, auf die Rede zu reagieren und eine Regierungserklärung abzu­ge­ben. In der SPD fand man das anmaßend. Staatssekretär Sören Bartol schrieb auf Twitter, er finde „diesen Botschafter mittlerweile unerträglich“. Das Wort „Bot­schafter“ setzte er in Anführungs­zeichen.

Melnyk kennt Bartol nicht, aber, und das ist überraschend: er kann ihn verstehen. „Er hat nur die Stimmung in der Fraktion wiedergegeben“, sagt Melnyk, und es klingt, als tue Bartol ihm leid. Melnyk weiß, dass viele in der SPD so denken wie Bartol, aber es nicht sagen. Melnyk sind jene lieber, die ihre Gedanken aussprechen.

„Was kannst du schon machen, wenn du wütend bist? Einen bösen Tweet ab­setzen.“ So geht es ihm auch oft. „Sie sind ein echtes Ar. . .“, schreibt er zum Beispiel an einen Politikprofessor, der die Ukraine zur Kapitulation auffordert. „Halten Sie Ihre linke Klappe“, schreibt er an den Linkenabgeordneten Fabio de Masi, der über Nazis in der ukrainischen Armee diskutieren will. Im Ge­gensatz zu Bartol löscht Melnyk seine Tweets nicht.

Direkte Linie von Stalins Hungerterror zu Putins Überfall

Unten im Plenarsaal gratuliert die Bundestagsvizepräsidentin zwei Par­lamentariern zu ihren sechzigsten Ge­burtstagen. Sie haben sechs Jahrzehnte lang nur Frieden und Freiheit erlebt, und jetzt soll es um die Impfpflicht gehen, ohne Übergang, ohne Aussprache. Melnyk steht auf, er hat hier nichts mehr zu suchen. Am Morgen wurde das Haus seines Freundes in Kiew bombardiert. „Er hat die Wohnung erst kürzlich mühsam renoviert.“