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Nur zweimal ist Tomasz Kucharski seinem Vater begegnet. 1984 besuchte der katholische Priester den damals 14-Jährigen und seine Mutter in Polen, und 1989 traf Kucharski ihn in Deutschland. Sie aßen zusammen zu Mittag. Der aus Polen geflüchtete Abiturient versprach sich Hilfe von dem deutschen Priester. Dass Gottfried M. sein Vater war, erfuhr Kucharski erst viel später – ein Schicksal, das er mit vielen Kindern von Priestern teilt.

Laut der irischen Organisation „Coping International“ gibt es weltweit etwa 10.000 Priesterkinder. Allen gemeinsam ist der Wunsch nach der Anerkennung durch ihre Väter.

Heute haben Tomasz Kucharski und Gottfried M. nur noch über den Rechtsweg Kontakt. Über Anwälte, Akten und Gerichtsprozesse, denen der 86-jährige Priester fernbleibt. Vater will Kucharski, der heute in Düsseldorf wohnt, ihn nicht nennen. „Dazu gehört viel mehr, als nur ein Kind zu zeugen.“

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Kucharski ist sieben, als sich seine Mutter und der Mann trennen, den er damals für seinen Vater hält. Kucharski wächst mit ihr und seiner Schwester in der Stadt Stargard bei Stettin auf. Nach seinem Abitur Ende der 1980er-Jahre sieht er keine Zukunft in Polen.

Als Flüchtling landet er in Schleswig-Holstein, zieht dann nach Duisburg, um Ostasienwissenschaften zu studieren. Das Studium beendet er nicht. Zu aufwendig, weil er nebenbei noch arbeiten muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Kucharski wird Grafiker.

Den Verdacht, dass sein Vater nicht sein Vater ist, entwickelt er erst in den 1990er-Jahren. Mit seiner Freundin redet er viel über seine Familie. Dabei erwähnt er auch den Priester, der Ende der 1960er-Jahre für einige Jahre in der Gemeinde seiner Mutter tätig war, bevor er als Missionar in die Welt aufbrach.

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Kucharski sagt, er habe sich immer gewundert, warum seine Mutter Fotos des Priesters in ihrem Portemonnaie trägt. Das weckte Zweifel in ihm, auch wenn er sich damals nicht vorstellen konnte, dass Priester Kinder zeugen – ein Verstoß gegen den Zölibat. „Priester waren Popstars in Polen. Was ein Priester sagte, wurde nicht infrage gestellt“, sagt er.

Dennoch lässt ihn die Vorstellung nicht los, dass Gottfried M. nicht doch sein Vater sein könne. Er schreibt einen Brief an ihn und stellt ihm diese Frage. Als der Priester darauf nicht reagiert, schickt er ein Einschreiben. Gottfried M. verweigert die Annahme.

1999 wendet sich Kucharski an eine Anwältin. Diese verfasst einen entschiedenen Brief an M. Es bestünden eindeutige Hinweise, dass „Sie der leibliche Vater meines Mandanten sind. Sie waren Ende der 60er-Jahre in Stargard als Missionar tätig und hatten in dieser Zeit eine außereheliche Beziehung zu Frau Krystyna Kucharska, der Mutter meines Mandanten.“ Die Anwältin fordert ihn auf, seine Vaterschaft außergerichtlich anzuerkennen.

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Gottfried M. antwortet per Brief und weist alles zurück. Er sagt, er habe nie eine Frau mit dem Namen Kucharska gekannt, auch nie mit einer Frau Beziehungen gehabt und sei im Dezember 1967 ausgewandert. Mehr als ein Jahr vor Kucharskis Geburt.

Nun fragt er erstmals seine Mutter und konfrontiert sie mit dem Schreiben des Priesters. Auch seine Mutter habe jegliche Beziehung bestritten, erinnert sich Kucharski. Er glaubt ihr. Doch die Sache lässt ihn nicht los.

2013 stößt er auf die Rezension eines Buches, das der Priester über seine Zeit als Missionar in Afrika geschrieben hat. In der Rezension steht, dass er Polen im Sommer 1968 verlassen hat, zu einer Zeit also, als Kucharskis Mutter bereits schwanger war. Für ihn war das der Beweis, dass der Priester gelogen hat.

In dem Buch sind auch Fotos abgebildet, auf denen der Priester zu sehen ist. Kucharski sieht Ähnlichkeiten zwischen sich und seinem Vater. Immer klarer wird, dass Gottfried M. sein Vater ist. Er wird wieder aktiv, schickt dem Priester eine Nachricht über das Faxgerät der Gemeinde in Hagen, in der er arbeitet. Darin berichtet Kucharski von seinen Erkenntnissen, bezichtigt ihn der Lüge, schlägt ein Treffen vor und droht mit Öffentlichkeit.

Als die Antwort ausbleibt, so schildert es Kucharski, sendet er ein zweites Fax. Diesmal wendet er sich an die Gemeinde und schickt auch eine Mail an den Gemeindevorstand, in der zu lesen ist, dass der Priester sein Vater sei. Kurz darauf melden sich die Anwälte des Priesters: „Unser Mandant verwahrt sich mit aller Entschiedenheit gegen die aus der Luft gegriffene Behauptung, Sie seien sein Sohn.“

Damit beginnt ein Rechtsstreit, der bis heute andauert. Der Priester zeigt ihn wegen Nötigung an, außerdem erwirken seine Anwälte eine einstweilige Verfügung. In der Folge ist es Kucharski unter Strafandrohung untersagt, zu behaupten, Gottfried M. sei sein Vater.

Kucharski informiert seine Mutter über den Vorgang. Diese bricht ihr Schweigen und gesteht, dass sie ein vierjähriges Verhältnis mit dem Priester hatte und bis in die Gegenwart einen Briefkontakt mit ihm unterhält. Später sagt sie auch vor dem Amtsgericht Düsseldorf aus, legt Briefe und Postkarten vor.

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Über seine Anwälte lässt der Priester die Aussagen bestreiten. „Der Vortrag von Frau Kucharska ist reine Fantasie“, heißt es in einem Schreiben an das Amtsgericht. Dieses entscheidet 2016, dass der Priester einen Vaterschaftstest machen muss. Der ergibt: Gottfried M. ist zu 99,999999 Prozent der leibliche Vater. Die einstweilige Verfügung wird aufgehoben.

Doch Kucharski reicht das nicht. Zwar ist er nun erbberechtigt, hat aber wegen der Gerichtskosten Schulden machen müssen. Daran ist in seinen Augen Gottfried M. schuld, weil der seine Vaterschaft geleugnet hat. Also verklagt er ihn und das für M. zuständige Erzbistum Paderborn auf Schadensersatz in Höhe von knapp 22.000 Euro.

Im Mai 2020 entscheidet das Landgericht Paderborn gegen Kucharski: Das Bistum trägt keine Verantwortung, weil eine Vaterschaft die persönliche Angelegenheit des Priesters ist. Auch dem Priester ist laut Gericht nichts anzulasten. Kucharski habe den Beweis nicht erbracht, dass M. schon vor dem Test von seiner Vaterschaft gewusst habe.

Diesen Beweis möchte Kucharski bald vor dem Oberlandesgericht Hamm erbringen. Er hat Berufung eingelegt. Hat Gottfried M. wider besseres Wissen die einstweilige Verfügung erwirkt? Kucharskis Anwalt will im Prozess den Priester befragen. Briefe an Gottfried M., in denen Kucharskis Mutter schreibt, dass er der Vater sei, gibt es nicht. Für Kucharski ist die Sache trotzdem klar: Der Priester wusste Bescheid. Warum sonst hätte er sich so lange gewehrt gegen eine Klärung?

Die Dokumente, die Kucharski vorlegt, erwecken tatsächlich den Eindruck, dass M. vieles unternahm, um der Feststellung seiner Vaterschaft zu entgehen. Etwa als der Test angeordnet wurde, lebte der Priester in einem Seniorenheim für katholische Missionare in Frankreich. Für eine Speichelprobe sollte er in die deutsche Grenzstadt Kehl reisen. Doch in einem Brief an das deutsche Konsulat in Straßburg schreibt er, wie schwer es für ihn sei, den Termin einzuhalten.

Kucharski vermutet, M. sei nur nach Frankreich gezogen, weil der Vaterschaftstest drohte – da Frankreich nicht dazu verpflichtet war, die Anordnung eines deutschen Gerichts durchzusetzen. Um die Adresse herauszufinden, musste Kucharski zum Detektiv werden. Die alte Gemeinde des Priesters informierte ihn, dass sie die Anweisung des Priesters habe, die neue Adresse nicht weiterzugeben.

Mittlerweile lebt Gottfried M. in einem Seniorenheim im Kreis Wesel. Sein Anwalt beantwortet die Fragen unserer Redaktion. Dieser wiederholt, dass Gottfried M. erst durch den Vaterschaftstest erfahren habe, „dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der leibliche Vater von Herrn Kucharski ist“.

Der Kampf, den Tomasz Kucharski führt, ist noch nicht beendet. Aber mittlerweile geht es nicht mehr nur um persönliche Gerechtigkeit. Kucharski will ein Signal an Kirche und Priester senden, dass sie nicht durchkommen, wenn sie ihre Verantwortung für Priesterkinder leugnen. Eine Annäherung an Gottfried M. strebt er nicht mehr an.