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In einer Vitrine des British Museum liegen zwei wieder zusammengefügte Stücke eines rund 2500 Jahre alten Tonzylinders mit Schriftzeichen. Es handelt sich um einen Erlass des altpersischen Königs Kyros des Großen nach der Eroberung von Babylon. Dieser König herrschte über ein Gebiet, das sich vom Bosporus über die heutigen Staaten Türkei, Armenien, Persien, Irak, Kuwait, Syrien, Libanon erstreckte, sowie Teile von Israel und Jordanien, Pakistan, Afghanistan, Turkmenistan und Tadschikistan. Kyros’ Erlass verfügte die Befreiung der Sklaven im eroberten Gebiet.

Zudem betonte er die Gleichheit aller Menschen und deren Recht, ihre Religion frei zu wählen. Dabei beschränkte er die politische Macht der Tempel. Von der Religionsfreiheit profitierten auch die Juden, die er aus der babylonischen Gefangenschaft entließ. Bis heute wird diese Begebenheit in christlichen Predigten thematisiert.

Die Vereinten Nationen erkennen Kyros’ Erlass als erste Menschenrechtserklärung an. Die freie Religionswahl und -ausübung war Bestandteil der meisten Menschenrechtserklärungen, etwa der Virginia Declaration of Rights von 1776. Diese hielt fest, dass Religion „nur durch Vernunft und Überzeugung bestimmt sein und nicht durch Zwang oder Gewalt“ auferlegt werden dürfe.

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Auch aus der im selben Jahr folgenden Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten spricht diese Haltung. Die Französische Nationalversammlung verabschiedete 1789 ihre Erklärung der Bürgerrechte. Auch sie sah Religionsfreiheit vor, solange diese sich nicht gegen den Rechtsstaat wendete.

Und so zieht sich die Beschränkung der politischen Macht der Religionen wie ein roter Faden durch die genannten Menschenrechtserklärungen seit Kyros. Sie ist bis heute weitgehend Konsens in demokratischen Gesellschaften. Die Realität im Rest der Welt ist allerdings eine andere. Menschen werden wegen ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt. Einige, obwohl ihre Religion keine politische Macht beansprucht. Andere, weil ihre Religion genau das tut. Oder weil radikale Gruppen gewaltsam die Errichtung von Gottesstaaten erreichen wollen.

Ein Blick in die Geschichte des Nahen Ostens

Eine der heutzutage am häufigsten verfolgten Glaubensgemeinschaften ist die der Christen, ob durch gezieltes Handeln wie in Nordkorea oder durch spontane Pogrome wie in Ägypten. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist gerade bei ihnen jedoch meist gering. Nur wenn Christen während eines Gottesdienstes ermordet werden, wird Betroffenheit sichtbar. Wie zu Ostern 2017 in Ägypten geschehen oder im selben Jahr in Pakistan. Danach verschwindet das Thema meist jedoch rasch wieder – aber weshalb?

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Das lässt sich mit einem Blick in die Geschichte einer Region im Nahen Osten besser verstehen.

Zu den ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt zählen jene in Syrien und Irak. Im 7. Jahrhundert wurden syrisch-aramäisch sprechende Christen durch die islamische Kolonisierung zu einer geduldeten Minderheit. Das blieben sie lange, auch unter der osmanischen Herrschaft ab 1516.

Nach der Revolution der sogenannten Jungtürken 1908 verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Türken und Arabern – und für Christen wurde es gefährlich. Oft wird vergessen, dass die türkisch-osmanischen Machthaber in jener Zeit einen Völkermord an Hunderttausenden assyrischen Christen begehen ließen.

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Nach dem Ersten Weltkrieg besetzten die Siegermächte Großbritannien und Frankreich die arabischen Provinzen des Osmanischen Reichs und teilten sie im Einvernehmen mit dem Völkerbund in zwei Mandatsgebiete auf. In sie wurde jene Religionsfreiheit zurückgebracht, die König Kyros 2500 Jahre zuvor eingeführt hatte. Nach dem Muster des von den Briten 1920 geschaffenen Irak schufen sie Syrien und den Libanon. Beide Staaten galten bis ins 21. Jahrhundert in der arabischen Welt als sicherste Gegenden für Christen.

Mit der Unabhängigkeit der Mandatsgebiete und Kolonien in vielen Teilen der Welt nach 1945 konnte sich die Demokratie nicht überall so durchsetzen, wie es die Kolonialherren angestrebt hatten. Auch und gerade in islamisch geprägten Staaten entwickelten sich Diktaturen und demokratisch nur bedingt legitimierte Regime. Die Ausübung anderer Religionen als der des Islam waren in einigen Staaten nicht oder nur eingeschränkt möglich.

Islamisten füllten das Machtvakuum

Als ab Ende 2010 die Protestbewegungen im Nahen Osten und Nordafrika im „arabischen Frühling“ Regierungen in rascher Folge stürzten, so beispielsweise in Ägypten, Libyen oder dem Jemen, waren es mitunter Islamisten, die letztlichdas Machtvakuum füllten. In vielen Ländern richteten sich die oft genozidalen Säuberungen der Radikalen gegen Christen.

Die Gründe sind laut Dirk Schuster, Religionswissenschaftler an der Universität Potsdam, vielschichtig: Er argumentiert, dass sich Aggression und Enttäuschung in politisch instabilen Situationen meist gegenüber „Minderheiten ohne machtpolitische Basis“ entlädt.

Nach dem Sturz der Diktatoren und dem folgenden politischen und wirtschaftlichen Chaos hätten viele muslimische Gemeinschaften Sündenböcke gesucht. Die Christen seien ein leichtes Ziel gewesen, so Schuster: „Viele Fundamentalisten deuten beispielsweise die relativ friedliche Koexistenz zwischen Kurden und Christen als Verrat an einer vermeintlichen Gemeinschaft aller Muslime.“

Schuster verweist zudem auf die Rolle des Vatikans, der sich auf politischer Ebene für den Schutz verfolgter Christen einsetzt. „Da ist es in der Vorstellung fundamentalistischer Gruppen ein Leichtes, propagandistisch jene Stereotypen zu bedienen, die beispielsweise einheimische Christen als Vertreter des ‚Westens‘ brandmarken.“

Massive Christenverfolgung auch in Asien

Allerdings nimmt die Christenverfolgung nicht nur im türkisch-arabischen Raum zu. Lukas Pokorny, Professor für Religionswissenschaft in Wien, nennt Beispiele aus dem asiatischen Raum, die oft von der massiven Christenverfolgung in Nordkorea in den Schatten gestellt werden. „Christliche Gemeinschaften in der Volksrepublik China werden als xiejiao (‚destruktive Sekte‘) etikettiert. Zu diesen zählt die Quannengshen Jiaohui, die ‚Kirche des Allmächtigen Gottes‘, deren Mitglieder sich zunehmend in der chinesischen Diaspora wiederfinden – auch in Deutschland und Österreich.“

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Pokorny verweist auch auf Vietnam und Laos. Die florierenden protestantischen Gemeinschaften sehen sich wiederkehrend mit Repressionen durch lokale Behörden konfrontiert, was zu Fluchtbewegungen führt – kaum aber zu medialer Aufmerksamkeit oder gar diplomatischen Interventionen.

Christen in Nigeria

Nigerianische Christen leiden besonders unter den Gewalttaten von Boko Haram und ISWAP. Im Video erzählt Amina von ihren Erlebnissen. (Video über verfolgte Christen in Nigeria und dem Irak – Teil 1 Nigeria)

Quelle: Matthis Kattnig / WELT

Und das Beispiel Myanmars steht wohl wie kein anderes der jüngeren Zeit dafür, wie unterschiedlich die Welt Verfolgung aufgrund von religiöser Haltung wertet.

Laut dem französisch-luxemburgischen Historiker Jacques Leider ist der Begriff Rohingya erst seit den 1960er-Jahren als Selbstbezeichnung einzelner muslimischer Gruppen in Myanmar gebräuchlich. Die Rohingya nutzen ihn, um ihre Identität als eigene Volksgruppe zu bekräftigen.

Seit einiger Zeit ist die brutale Unterdrückung der unter Rohingya zusammengefassten Bürger Myanmars international zum Thema geworden, die öffentliche Solidarität und Unterstützung sind groß. Anfang des vergangenen Jahres verpflichtete der Internationale Gerichtshof Myanmar unter anderem zum Schutz der muslimischen Minderheit.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Rohingya nicht nur auf Menschenrechte und Religionsfreiheit pochen. Einige ihrer Vertreter streben einen eigenen muslimischen Staat an – auch mit Waffengewalt. Die Rohingya werden von Myanmars Militär verfolgt.

Die Christen werden, wie sie, vom Militär verfolgt, aber auch von den Rohingya, die Kirchen schließen und Pastoren verhaften. Nach Berichten des „Wall Street Journal“ wurden allein 2018, binnen eines halben Jahres, 130.000 Angehörige der Volksgruppe der Kachin vertrieben, zu 90 Prozent Christen. Dennoch scheint sich für sie kaum jemand zu interessieren.

Der Fall berührt einen Aspekt des Themas, der schnell politisch wird und eine sachliche Diskussion erschwert: Die meisten Christen weltweit werden von Muslimen verfolgt.

Und während sich die Umma, die Gemeinschaft der Muslime, als weltweite Verbindung versteht, verstehen sich christliche und nicht christliche Deutsche eher weniger als Teil einer Gemeinschaft mit Christen in Myanmar oder Syrien.

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In christlichen Gottesdiensten in Deutschland wird die Verfolgung von Christen thematisiert. Doch das bekommt nur jener kleinere Teil der Christen mit, der noch am Gemeindeleben teilnimmt. Zudem sprechen die Christen selbst nicht mit einer Stimme. Das betrifft keinesfalls ausschließlich theologische Feinheiten, die einer größeren Ökumene im Wege stehen könnten. Nicht einmal dort ist enge Kooperation erkennbar, wo es das gemeinsame Grundinteresse geben sollte, alles zu unternehmen, um eine öffentliche Verurteilung der Verfolgung und Ermordung von Christen zu erreichen.

Quelle: Infografik WELT

Es scheint zudem ein Grundproblem zu geben: In Zeiten der Dauerempörung ist ein sachlicher Diskurs schwierig geworden. Die Polarisierung von Meinungen, verstärkt durch soziale Medien, führt im Fall der Christenverfolgung – etwa in Deutschland – in letzter Konsequenz dazu, dass sie Menschenleben kostet. Denn eine Solidarisierung mit den Opfern wird rasch in eine Kritik an den Tätern verkehrt.

Und während am rechten Rand Muslime pauschal als Bedrohung instrumentalisiert werden, sieht man am linken Rand beim wichtigen Thema Menschenrechte nicht allzu genau hin, wenn es um die Menschenrechte von Christen geht. Der Effekt ist, dass diejenigen, die sich keinem der beiden Lager zurechnen wollen, schweigen.

Doch Menschenrechte wie die Religionsfreiheit sind unteilbar. Es ist moralisch geboten, gegen jedwede Diskriminierung und Verfolgung von Muslimen aufzustehen. Wer aber sitzen bleibt, wenn Christen – oder andere Religionen – die gleichen Diskriminierungen erleiden, hat die Universalität der Menschenrechte als Grundlage der Demokratie nicht verstanden.

Julien Reitzenstein forscht und lehrt als Historiker zu NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte.

Dieser Text ist aus WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

Quelle: WELT AM SONNTAG