Quelle: Martin U.K. Lengemann/ WELT


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Ja, sagt Clemens Wergin

Es gibt gute Gründe, warum internationale Sportverbände nicht so pingelig sind, wenn es darum geht, große Sportereignisse an Länder mit fragwürdiger Menschenrechtspraxis zu vergeben. Schließlich nimmt der Widerstand gegen solche Events in demokratischen Gesellschaften stetig zu – etwa was Olympische Spiele anbelangt. Allein im letzten Jahrzehnt kippten Bürger per Volksentscheid die Bewerbungen von München, Hamburg, Innsbruck, Calgary, Rom, Oslo und Bern.

Und je mehr Demokratien sich selbst aus dem Rennen nehmen, desto stärker wird der Druck, solche Großveranstaltungen an Staaten zu vergeben, wo die Bürger keine oder kaum Mitsprache haben. Zumal die Zahl der Länder mit freiheitlichen Gesellschaften sinkt. Die Auswahl „guter“ Gastgeber, die gleichzeitig über die finanziellen Ressourcen für solche Mammutereignisse verfügen, nimmt ständig ab.

Wir haben es also auch uns selbst zu verdanken, wenn Olympische Spiele immer häufiger an autoritäre Regime vergeben werden. Aber angesichts der massiven chinesischen Menschenrechtsverbrechen und der Anfang 2022 anstehenden Winterspiele in Peking stellt sich eine Frage drängender denn je: Gibt es überhaupt noch etwas, das die internationale Sportgemeinde zur Absage einer Großveranstaltung veranlasst?

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Die USA jedenfalls klassifizieren die systematische Unterdrückung und Internierung der Uiguren und die Auslöschung ihrer Kultur als Genozid und haben zusammen mit der EU, Kanada und Großbritannien Sanktionen gegen chinesische Offizielle beschlossen, die an den Menschenrechtsverbrechen gegen die muslimische Minderheit beteiligt sind. Die EU spricht in ihrer Begründung von „willkürlichen Inhaftierungen und herabwürdigender Behandlung, die den Uiguren und anderen Angehörigen ethnischer muslimischer Minderheiten angetan werden, sowie systematischen Verletzungen ihrer Religions- und Glaubensfreiheit“.

Das ist geschönter Bürokratiesprech für über eine Million Uiguren, die in Umerziehungslager gepfercht wurden, für muslimische Kulturdenkmäler und Moscheen, die systematisch dem Erdboden gleichgemacht werden und für uigurische Frauen, die in den Lagern offenbar massenhaft vergewaltigt oder unfruchtbar gemacht werden.

Beim Völkermord eine Grenze setzen

Nach dem Boykott der Olympischen Spiele in Moskau durch den Westen 1980 und dem Gegenboykott von Los Angeles durch den Ostblock vier Jahre später ist die freiheitliche Welt zwar zu Recht vorsichtiger geworden, diese Riesenkeule zu benutzen.

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Aber was China den Uiguren antut, ist mindestens ein kultureller Genozid. Und wer nicht wenigstens beim Thema Völkermord eine Grenze setzt, der hat jegliche moralische Ansprüche an internationale Großveranstaltungen aufgegeben. Deshalb ist es dringend geboten, die olympischen Winterspiele in Peking zu boykottieren.

Der Autor verbringt seine Freizeit gern segelnd oder Kajak fahrend. Olympia verfolgt er normalerweise gebannt vor dem Fernseher.

Quelle: Thomas Porwol


Nein, sagt Rouven Chlebna

Ein Olympia-Boykott trifft die Falschen: nämlich Sportlerinnen und Sportler, deren großer Lebenstraum aus politischen Interessen zerstört wird. Olympische Spiele, Sommer oder Winter, sind für jeden Spitzensportler der Gipfel der Karriere. Bei den drei Wochen im olympischen Dorf dabei zu sein, ist alles. Dafür quälen sich Athleten durch Trainingspläne, die auf Jahre hinaus angelegt sind.

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Sie meistern unzählige Entbehrungen im Privatleben, die oft auch Partner, Kinder und Freunde still akzeptieren. Sie leben am Existenzminimum, weil Preisgelder und Förderungen besonders in unpopulären Sportarten nicht ausreichen. Alles nur, damit der Wettkampf unter olympischer Flagge und der Peak der eigenen Leistungsfähigkeit im Optimalfall auf denselben Tag fallen. Diesen Sportlerinnen und Sportlern die Belohnung für ihre Anstrengungen zu rauben, wäre unfair.

Unfair vor allem deshalb, weil die Sportler nicht für die Versäumnisse der Entscheider verantwortlich gemacht werden dürfen. Olympia ist für das Internationale Olympische Komitee die wichtigste Einnahmequelle. Der Verband macht es sich aber zu leicht, wenn er Spiele aus finanziellen Aspekten an autoritäre Regime vergibt, nur weil dort mit weniger Widerstand zu rechnen ist als in den meisten Demokratien.

Der menschenverachtende Umgang Chinas mit Millionen Uiguren ist auch Thomas Bach seit Jahren bekannt. Aber der IOC-Präsident, geprägt vom Boykott der Spiele in Moskau 1980, warnt regelmäßig davor, den Sport für politische Zwecke zu missbrauchen.

Trotzdem bot das IOC den Machthabern in Peking durch die Vergabe der Winterspiele die Chance, sich vor einem weltweiten Publikum als perfekte Gastgeber zu inszenieren. Olympia 2022 wird vermutlich das erste sportliche Großereignis, das nach der Corona-Pandemie regulär ausgetragen werden kann. Ein Prestige-Coup für Staatspräsident Xi Jinping. Natürlich würde ein groß angelegter Boykott des Westens die chinesische Führung daher umso schwerer treffen.

Friedlicher Protest vor Ort

Viel besser wäre es aber, wenn die Athleten vor Ort die herrschenden Missstände in den Fokus rücken dürften. Natürlich steht auch in Peking das Sportliche idealerweise im Vordergrund, aber bei Olympia geht es eben auch um Werte, Rituale und Symbole, die in die Welt hinausstrahlen. Nach den Versäumnissen des IOC darf den Teilnehmern friedlicher Protest nicht verwehrt werden; auch wenn die umstrittene Regel 50 der Olympischen Charta politische Demonstrationen untersagt.

Aber einem Olympiasieger 2022 mit dem Ausschluss von den Spielen zu drohen, wie dem berühmten Black-Power-Duo 1968 in Mexiko City? Nicht hinnehmbar. Es wäre eine erneute Verbeugung des IOC vor China.

Der Autor schwitzte in seiner Jugend selbst täglich beim Basketballtraining. Bei seinen ersten Olympischen Spielen am TV zauberte sich im Jahre 2000 das Dream Team der USA zu Gold.