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Vier Jahre lang hatte der ehemalige US-Präsident Donald Trump versucht, alle amerikanischen Truppen aus Afghanistan abzuziehen – und war immer wieder von den Militärs überzeugt worden, es nicht zu tun und den Abzug zumindest an Bedingungen zu knüpfen, die vorher erfüllt sein müssten. Eine davon war etwa, dass die Taliban vorher ihre Beziehungen zu al-Qaida und anderen Terrorgruppen aufgeben müssen. Das ist laut Aussage der US-Geheimdienste nicht passiert. Und dennoch will Präsident Joe Biden nun das tun, was Trump immer wollte, sich aber gegen Widerstand der Experten letztlich nicht traute: Er hat mit dem 11. September einen festen Abzugstermin festgelegt – ohne jegliche Bedingungen.

Das von Biden festgelegte Datum markiert den 20. Jahrestag des verheerenden Terroranschlags von al-Qaida auf die USA. Es ist verständlich, dass die Amerikaner nach zwei Jahrzehnten der unendlichen Kriege in fernen, unterentwickelten Ländern müde sind.

Und dennoch ist es ein Fehler, Afghanistan nun einfach sich selbst zu überlassen. Weil es die enormen Fortschritte gefährdet, die Afghanistan seit den dunklen Jahren unter der Taliban-Herrschaft gemacht hat, besonders auch die der Frauen. Und weil es die fragile Stabilität bedroht, die Amerika und der Westen dort unter hohem Blutzoll errichtet haben.

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Amerikanische Geheimdienste warnen davor, dass ein kompletter Abzug der USA und der Nato schnell zu einem Bürgerkrieg und dem Fall Kabuls führen könnte. Und dass es nur zwei Jahre dauern könnte, bis al-Qaida und andere Terrorgruppen Afghanistan wieder als stabile Basis nutzen. Es stimmt zwar, dass der Einsatz in Afghanistan auch bei den amerikanischen Militärs sehr unbeliebt ist. Noch mehr fürchten sie jedoch, dass sie nach einem kompletten Rückzug irgendwann zurückkehren müssen, weil von Afghanistan wieder eine Bedrohung für die ganze westliche Welt ausgeht.

Dabei ist Biden eigentlich ein gebranntes Kind. Als Vizepräsident unter Barack Obama hatte er einst vehement für einen Komplettabzug der USA aus dem Irak plädiert, gegen den Rat der führenden Köpfe des Pentagon. Obama zog die US-Truppen dann 2011 ab. Mit dem Ergebnis, dass Irak gänzlich unter iranischen Einfluss fiel und amerikanische Truppen fünf Jahre später zurückkehren mussten, weil das tief gespaltenen Land nicht in der Lage war, dem Sturmlauf der IS-Terroristen effektiv entgegenzutreten.

Die Realitäten vor Ort sind kompliziert

Wie einst im Irak ist auch im Fall Afghanistan das politische Bedürfnis verständlich, „reinen Tisch“ zu machen und ein turbulentes Kapitel der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik symbolhaft abzuschließen. Doch die Realitäten vor Ort sind meist sehr viel uneindeutiger und komplizierter als schneidige Entweder- oder Debatten. Es wäre deshalb besser, wenn die USA und die Nato zumindest schnelle Eingreiftruppen und Spezialkräfte in Afghanistan belassen würden, die die Regierung in Kabul punktuell und in Notfällen gegen die Taliban unterstützen können und den Druck auf Extremisten aufrechterhalten. Ebenfalls ratsam wäre, wenn die USA weiter Drohnenbasen im Land unterhalten würden, anstatt Einsätze in Zukunft von den US-Basen am Golf fliegen zu müssen.

Mit dem bedingungslosen Abzug folgt Biden einem populistischen Impuls, dem nicht einmal sein Vorgänger Trump gänzlich nachgegeben hatte. Biden läuft damit Gefahr in die Geschichte einzugehen als der Präsident, der Afghanistan erneut an die Taliban verlor.