Alles begann am Freitag mit dem Auftritt der brasilianischen Drag­queen und Sängerin Pabllo Vittar. Als die Künstlerin nach ihrem Auftritt bei dem Musikfestival Lollapalooza in São Paulo die Bühne verließ, schnappte sie sich ein Handtuch. Es war nicht ir­gendein Handtuch, sondern eines, auf dem das Gesicht des früheren linken Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva abgebildet war, der in diesem Jahr wieder zur Präsidentenwahl antritt. Vittar formte zu­dem mit ihren Fingern ein L, wie man es von Lulas Anhängern kennt. Danach war die Reihe an der britischen Sängerin Marina von Marina and the Diamonds, die während ihrer Show auf Putin und den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro schimpfte. Das Publikum zog mit. „Raus mit Bolsonaro!“, schallte es über das Gelände des Autodroms von São Paulo, auf dem das dreitätige Festival stattfand. Daneben waren auch Sprechchöre für Lula da Silva zu hören.

Tjerk Brühwiller

Korrespondent für Lateinamerika mit Sitz in São Paulo.

  • Folgen Ich folge

In der Parteizentrale der „Liberalen Partei“ (PL), der sich Präsident Bolsonaro in diesem Jahr angeschlossen hat, blieb das Geschehen nicht unbemerkt. Nach dem ersten Abend des Festivals traten die Anwälte der Partei an das Oberste Wahlgericht heran, bei dem sie eine Klage gegen die Veranstalter wegen irregu­lärer Wahlwerbung einreichten. Ein Richter ging auf die Klage ein und forderte die Organisatoren des Festivals unter Androhung einer Buße von 50.000 Real (umgerechnet knapp 10.000 Euro) auf, politische Äußerungen zu unterbinden. Rechtsexperten kritisierten den Eingriff. Und die Veranstalter des Festivals legten Rekurs ein. Man könne nicht als privater Zensor agieren und die Äußerungen der auftretenden Künstler kontrollieren, ar­gumentierten sie.

Sie sollten Recht behalten. Noch entschlossener und energischer als zuvor traten die Künstler am zweiten und dritten Tag für ihre Meinung ein. Von den bra­silianischen Künstlern ließ keiner den Seitenhieb gegen Bolsonaro aus. Schon bald erhielt das Festival den Spitznamen „Lu­lapalooza“. Andere Künstler solida­ri­sierten sich. So zum Beispiel die Sän­gerin Anitta, die derzeit mit ihrem Hit „En­volver“ und dem freizügigen Video dazu weltweit für Furore sorgt und die bei dem Festival einen Kurzauftritt mit dem amerikanischen Star Miley Cyrus hatte. In den sozialen Netzwerken gab Anitta sich herausfordernd: „Jeder wählt, wen er will. Doch den Leuten zu verbieten, die Un­zufriedenheit mit der Regierung zu äu­ßern, ist Zensur“, sagte sie und versprach, die Strafen ihrer Künstler­kol­legen zu übernehmen. Wer kämpfen und sich äu­ßern wolle, solle das tun. „50.000? Hey . . . eine Handtasche weniger“, schrieb sie auf Twitter.

Während sich die Künstler in São Paulo vorwerfen lassen mussten, gegen das Wahlgesetz zu verstoßen, nahm Präsident Jair Bolsonaro in Brasilia an einem Parteikonvent teil, der so gut wie keinen anderen Inhalt hatte als die bevorstehende Wahl. Bolsonaros Teilnahme, von der ihm die eigenen Anwälte abgeraten hatten, könnte laut Gesetz als verfrühte Wahlkampagne ausgelegt werden. Doch daraus macht sich Bolsonaro vermutlich nichts. Um die Freiheit zu verteidigen, werde er sich gegen alles und jeden stellen, versprach er. Das Wochenende gab einen bitteren Vorgeschmack auf das hitzige politische Klima in Brasilien, das auf einen stark polarisierten Wahlkampf zwischen Bolsonaro und Lula da Silva zu­steuert.