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Wer hat Angst vor Tesla? Diese Frage schwingt inzwischen fast immer mit, wenn in der deutschen Automobilindustrie über die Zukunft gesprochen wird. In allen Interviews mit Managern und Experten aus der Branche sei der US-Elektroautohersteller „der Elefant im Raum“, sagt der Soziologe Andreas Boes, Vorstand des Münchener Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung (ISF). Er hat im Auftrag der IG Metall die Auswirkungen des Tesla-Schocks auf die deutsche Industrie untersucht – und erwartet für die kommenden Jahre radikale Veränderungen.

„Die Autoindustrie, wie wir sie zu kennen glauben, wird es in zehn Jahren so nicht mehr geben“, sagte Boes auf der digitalen Hannover Messe. Die Industrie müsse ihren alten Entwicklungspfad verlassen und sich regelrecht neu erfinden. Dafür hat Tesla aus seiner Sicht den entscheidenden Anstoß gegeben. „Das Unternehmen aus Kalifornien legt den Finger in die Wunde“, sagte Boes.

Schon im Juli soll die Elektroauto-Fabrik von Gründer Elon Musk in Grünheide bei Berlin die Produktion starten. Angeblich ist der Aufbau des Werks im Zeitplan, auch wenn die endgültige Genehmigung durch die Behörden noch immer fehlt. Schon vor dem Produktionsstart ist der Technologievorreiter und Weltmarktführer bei reinen Elektrofahrzeugen aber bereits in den Köpfen vieler Automanager im Geburtsland des Automobils angekommen. „Die Automobilindustrie fühlt sich von Tesla regelrecht herausgefordert“, hat Boes beobachtet.

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Vor allem bei Volkswagen arbeiten sich die Manager sehr an dem Vorbild aus den USA ab. Das liegt an Konzernchef Herbert Diess, einem bekennenden Fan von Elon Musk. Er nutzt die Konkurrenz durch Tesla regelmäßig intern, um Druck auf seine Mitarbeiter aufzubauen und den riesigen Konzern in die von ihm gewünschte Richtung zu bewegen.

Bernd Osterloh, der Vorsitzende des Konzernbetriebsrats von Volkswagen, stimmt nicht in die Euphorie des Vorstandschefs mit ein. „Ich glaube, dass der Hype eine Überbewertung der tatsächlichen Situation von Tesla ist“, sagte Osterloh in der Diskussionsrunde auf der Messe. Bei vielen Dingen, etwa dem Fahrwerk, sei Volkswagen einfach besser.

„Wo Tesla uns im Moment voraus ist – und das gefällt dem Vorstand von Volkswagen nicht –, ist die eigene Kompetenz im Unternehmen. Die bauen ihre Chips selber und machen ihre Software selber. Das kaufen wir alles ein.“ Die Frage sei aus seiner Sicht, wo künftig die Wertschöpfung im Fahrzeug stattfinde – ob also beispielsweise Batteriezellen in Deutschland gefertigt werden. Es gehe künftig eben nicht nur um Software und neue Geschäftsmodelle.

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Der Wandel der Branche wird davon allerdings bestimmt. Tesla sei der Vorbote einer neuen Produktionsweise, sagte Boes. Die wichtigsten Wettbewerber würden künftig Technologiekonzerne wie Google oder Alibaba sein. Darauf habe sich Volkswagen schon 2019 eingestellt. „Bei Mercedes und BMW habe ich im letzten Quartal vergangenen Jahres ähnliche Tendenzen gesehen“, sagte Boes.

Dass Elon Musk nichts von Gewerkschaften und betrieblicher Mitbestimmung nach deutschem Muster hält, gilt als ausgemacht. Dennoch halten sich die Funktionäre der IG Metall bisher weitgehend zurück mit Kritik an Tesla.

Es sei ja ein positives Zeichen, wenn sich ein Unternehmen wie Tesla in Brandenburg ansiedelt, sagte Thorsten Gröger, Bezirksleiter der Gewerkschaft Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. „Mitbestimmung, tarifvertraglich geregelte Arbeitsbedingungen machen Unternehmen innovativer und erfolgreicher. Ich würde Herrn Musk raten, das zu erkennen“, sagte er. Auf Gesprächsangebote der Metaller in Brandenburg ist Tesla bisher nicht eingegangen.

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Auch auf der Arbeitgeberseite geht das Unternehmen seine eigenen Wege. Selbst ohne Mitglied im Verband der Automobilindustrie (VDA) zu sein, nimmt Tesla politisch Einfluss. Dass Musks europäische Statthalter bereit sind, unkonventionelle Wege zu gehen, zeigten sie mit einer Aktion in der vergangenen Woche: In einem Brief an das Oberverwaltungsgericht Berlin kritisierte Tesla ausführlich das deutsche Planungsrecht und legte zehn Punkte vor, die den Bau von Projekten wie die eigene Fabrik in Brandenburg beschleunigen könnten.

In dem Schreiben bietet sich das Unternehmen als „Amicus Curiae“ (Freund des Gerichts) in einer Klage der Deutschen Umwelthilfe gegen die Bundesregierung an. Die Ziele der Klage unterstütze man, heißt es bei Tesla.

„Keine Angst vor Tesla“

Die deutschen Autohersteller parieren den Angriff aus Kalifornien nun mit einer großen Zahl reiner Elektro-Modelle. Daimler stellt am Donnerstag sein lang erwartetes Flaggschiff EQS vor – ein Elektroauto, das auch zum Selbstbewusstsein der Manager deutlich beiträgt. „Wir sind an der Spitze der Bewegung mit dem Fahrzeug“, sagte Christoph Starzynski, Leiter der Elektrofahrzeug-Architektur bei Mercedes-Benz auf einer Veranstaltung der „Automobilwoche“. Im Vergleich zum Model S von Tesla sei der EQS größer, luxuriöser: „Wir sind dabei, ein Segment zu definieren“, sagte Starzynski.

Das Thema der Veranstaltung: „Keine Angst vor Tesla: Wer liegt vorne im Elektro-Auto-Rennen?“ Dass beide Diskussionen direkt nacheinander stattfanden, war sicher Zufall. Doch die Themensetzung zeigt: Der Elefant steht durchaus noch im Raum.